Diskurs: Dancehall & Female Empowerment


Diskussionsrunde initiiert von der WATCH MI STEP DANCE SCHOOL 

Text von Maria Scheel

Im tropisch-heißen August 2018 trafen sich in Leipzig mehrere Dancehall-begeisterte Frauen und Männer zu einer offenen Diskussion – gesellig im Park. Wir sprachen über unsere Erfahrungen mit der Dancehall Kultur, Weiblichkeit, die Rolle der Frau im Dancehall, kulturelle Unterschiede, Wahrnehmung, Body Positivity, Feminismus und gesellschaftliche Zwänge.

Alle Interessierten hatten erste bis hin zu langjährige Erfahrungen vor allem in der Dancehall gesammelt.

Der Hauptfokus dieses Artikels liegt dabei vor allem auf persönlichen Erfahrungen und einer Interpretation des status quo, nicht auf einer wissenschaftlich fundierten Stellungnahme. 

Female Dancehall ist eine Tanzrichtung aus Jamaika, welche ihre Wurzeln in den Straßen Kingstons hat. Oft werden neben selbstbewussten Bewegungen auch alltagliche Situationen metaphorisch umgesetzt. Dancehall Queens, die der krönende Abschluss einer gelungen Partynacht sind, legen nicht nur Selbstbewusstsein, Style und Erfindungsreichtum an den Tag, sondern konkurrieren vor allem auch um die Aufmerksamkeit der Kameras durch akrobatische Tricks, die oft viel Können und Flexibilität – und vor allem Wagemut erfordern!

 

In Deutschland existieren immer mehr Kurse und Workshops zu diesem Thema, aber auch Events wie der German Dancehall Queen Contest beleben die Szene. Bei Watch Mi Step werden schon seit 2011 sowohl Female Dancehall, Whining und Dancehall Queen Classes angeboten, als auch das seit 2016 jährlich stattfindende Female Confidence Camp.

 

Doch drängen sich in diesem Kontext vor allem für Neulinge in der Szene einige Fragen auf.

Was gibt mir Female Dancehall als Frau -
Körpergefühl, Selbstvertrauen, Energie?

Fast alle Beteiligten sind sich sicher, dass die weiblichen, ausdrucksstarken Bewegungen des Dancehall in erster Linie zu einem positiven Körpergefühl beitragen. Gerade, weil das Tanzstudio einen oft von Frauen dominierten und deshalb ziemlich wertungsfreien Raum darstellt. Mit kreisenden Hüften und Betonung der eigenen Kurven, weisen viele Weiblichkeitsriten ursprünglicher Kulturen ähnliche Bewegungen auf, welche traditionell zur Verstärkung der weiblichen Energie und Stärkung der Frauengemeinschaft beitragen. Es ist also naheliegend, dass die Ausübung, der oft  sexuell notierten Bewegungen, einfach nur auch einen inneren Instinkt befriedigt.

Auch das Selbstbewusstsein kann enorm durch die abgelegten Hemmungen gestärkt werden, da man sich außerhalb dieser Umgebung oft nicht trauen würde, in den Spagat oder Kopfstand zu springen und wild den Po zu shaken – diese Musik es einem aber erlaubt und es sogar wertschätzt.

Vor allem die Tänzerinnen mit langjähriger Erfahrungen sprechen von einer Befreiung, die sie erlebt haben, seit sie im Dancehall aktiv sind. Das basiert auf dem Mut, den man empfindet, wenn man das erste Mal über seine Grenzen hinaus geht, aber auch durch die Freiheit, die eigene Weiblichkeit, eben auch so „untypisch“ stark auszuleben und das mit einer Gemeinschaft starker Frauen zu teilen. Tanzen kann also das Potenzial besitzen, sich dadurch stärker, besser, schöner und als Frau vor allem machtvoller zu fühlen und damit dem Sich-selbst-bewusst-sein auf die Sprünge (oder splits?) hilft!

Warum ist der Kontrast zwischen meinem persönlichem Gefühl und der Interpretation von Außenstehenden so groß?

Probleme und Widersprüche im gesellschaftlichen Kontext

Fast alle Frauen in der Runde berichteten davon, dass dieses Gefühl nicht lange anhält – nämlich oft nur bis zu dem Punkt, an dem Nicht-Dancehall-Kenner, ob im Freundeskreis, auf der Party oder in der Öffentlichkeit generell, diese Bewegungen bewerten, ein oft nicht einmal verbales Feedback. Viele Stimmen meinen, diese Moves wären nicht angemessen, tabu oder gehörten ins Schlafzimmer.

Während auch an dieser Stelle Kommunikation ein Schlüssel ist,  fehlt oft das Verständnis für verschiedene Sichtweisen. An dieser Stelle prallen sowohl die Kulturen Jamaikas und Deutschlands aufeinander, als auch die Grundtenöre des „alten“ und „neuen“ Feminismus. Jedoch haben beide Vorstellung das Ziel, für gleiche Voraussetzungen, sowohl gesellschaftlich, als auch im Persönlichen zu kämpfen. Während früher Zurschaustellung weiblicher Attribute als „dem Mann dienlich“ gesehen wurden, wird heute, auch in unserer Diskussionsrunde, vor allem das Potenzial gesehen, sich zu entfalten. Statt slutshaming (also Personen aufgrund aufreizenden Verhaltens als „Schlampe“ engl. slut darzustellen und zu erniedrigen), liefern vor allem Tanz und Kleidungsstil das Stilmittel zur persönlichen Entfaltung und Ausdruck.

 Zu diesem Thema haben wir viel über Chimamanda Ngozi Adichies TED Talk gesprochen, in welchem sie erklärt, wie wichtig es ist, dass jede*r Feminist*in eine eigene Erfahrung und damit eine Sicht auf das Thema haben kann. Wir haben euch den Beitrag verlinkt

Oft angesprochen wurde auch der Inhalt der Dancehall-Musik. In vielen Liedtexten, meist von männlichen Interpreten performt, werden Frauen zum Tanzen angehalten, häufig auch in anreizender Weise. In der oft konservativen, Männer-dominierten Musikindustrie vermitteln Songs wie „Owner“, „Pon di cocky“ und „Hundred stab“ oft direkte Befehle, Erwartungshaltungen und Idealbilder an die Tänzerinnen. Seit Längerem eröffnen aber auch immer mehr weibliche Sängerinnen wie Spice, Shenseea, Ishawna, Stefflon Don und Co. die Szene und drehen den Spieß um und  dirigieren selbst lyrisch, wie ihnen der Sinn steht (dazu haben wir euch einen Artikel weiter unten verlinkt).

 Eine andere angesprochene Idee betont, wie viele Lieder als Challenge existieren, also als Chance zu zeigen, dass man den zum Song dazugehörigen Step kennt. Dies kann sich nicht nur auf die dafür gedachten Dancing Tunes beziehen, bei denen der Sänger die tanzende Menge dirigiert, sondern eben auch auf explizitere Songs. Dabei steht der Spaß und die Gemeinschaft der Dancehall eher im Vordergrund, als die direkte Interpretation der Lyrics.

http://www.vulture.com/2018/04/women-are-keeping-dancehall-fresh.html

Wo liegen Unterschiede zwischen der jamaikanischen und deutschen Interpretation von Dancehall Music und Dancing?

Kulturelle Unterschiede zwischen Sex, Seximus und Feminismus

Über die Thematik „cultural appropriation and appreciation“ wird aktuell viel diskutiert und geforscht und auch Dancehall erfährt außerhalb Jamaika, wie z.B. hier zu Lande, eine Neuinterpretation. Um die Bedeutung der Dancehall-Kultur vor allem auch für weibliche Tänzer zu verstehen, ist es wichtig herauszustellen, dass sich die jamaikanische und deutsche Gesellschaft nicht nur geschichtlich, sondern auch im aktuellen sozialen Gefüge stark unterscheiden. In beiden Ländern werden die Themen Sex, Sexismus und Feminismus oft sehr unterschiedlich angegangen und so ergeben sich viele Missverständnisse bei der Ausübung und Anerkennung der oft aufreizenden Tänze.

Sowohl unterschiedliche Schwerpunkte in der Emanzipationsdebatte, als auch unterschiedlicher Umgang mit der Objektivierung und Tabuisierung weiblicher Körper führt dazu, dass hier körperbetonte und anspielende Tänze als ein Versprechen für mehr gesehen werden. Andererseits hat sich mit der Entwicklung der Szene der Dancehall Queens eine Emanzipation eingestellt, die den Frauen die Stärke gibt, nicht als Objekt der Begierde und Befriedigung der männlichen Teilnehmer gesehen zu werden.

Dancehall in Jamaika entstammt vor allem den Streets of Kingston und wird deshalb auch als Voice of the Ghetto gesehen – sowohl als Rebellion gegen die Unterdrückung durch die Regierung und das System, als auch Repräsentation und Wertschätzung aller Mitglieder der Community – und zwar während der täglichen Parties z.B. durch Shoutouts des DJs. Deshalb muss Dancehall nicht gefallen, es ist kein Tanzstil, der für Shows und Bühnen kreiert wurde, sondern eine Kultur, ein Gesamtpaket (über die Hintergründe der Gender Equality Debatte in Jamaika bekommt ihr hier noch einen letzten Artikel verlinkt).

http://www.migrazine.at/node/715